Wo die Hilfe ankommt – Geflüchtete berichten. Teil 4

Iryna mit ihrer Familie

Iryna aus Horlivka, Gebiet Donezk, hat letztes Jahr mit uns ihre Erfahrungen dieses Krieges geteilt, nun möchten wir diese zusammen mit einem Spendenaufruf für unsere nächste Fahrt veröffentlichen. Der Text erscheint ungekürzt, Iryna soll zu Wort kommen.

Guten Tag! Mein Name ist Iryna und ich möchte meine kleine Geschichte erzählen. Mit meinem Mann Yuriy bin ich seit 17 Jahren zusammen und wir haben zwei Söhne, Ivan, 6 Jahre alt und Daniel, 9 Monate alt. Meine Familie ist mein Stolz, meine Jungs, meine Verteidiger.

Für uns begann der Krieg 2016, als ich mit meinem Mann zum ersten Mal unser Zuhause verließ und an einen sicheren Ort zog. Unsere Heimatstadt ist Horlivka im Gebiet Donezk. Auch wenn die Stadt seit fast zehn Jahren besetzt ist, wird sie immer unsere Heimat sein. Meine Eltern und die Eltern von meinem Mann sind dortgeblieben. Es war für sie, wie für viele ältere Menschen, schwer, wegzufahren und alles zurückzulassen, was sie ihr Leben lang erarbeitet hatten. Unsere Kindheit, unsere Jugend und unsere Erinnerungen sind dort geblieben. Dort ist auch unser Haus geblieben, das ich von meiner Großmutter geerbt habe und das zerstört wurde. Dies gab uns den großen Anstoß, unser Leben von Grund auf neu zu beginnen. Wir mussten absolut alles zurücklassen, sogar unseren vierbeinigen Freund. Wir konnten nur eine große karierte Tasche nehmen und wegfahren.

So zogen wir in die Stadt Kramatorsk. Es ist keine große Stadt und sie ist uns sehr ans Herz gewachsen. Hier begann unser neues Leben. Meine Freunde halfen mir, eine Wohnung zu mieten. Und dann erfuhr ich, dass ich schwanger bin, und das schon im dritten Monat. Es war sehr schwer, ich konnte wegen der Schwangerschaft keine Vollzeitstelle finden. Ich habe Teilzeit gearbeitet, wo immer ich konnte. Mein Mann hat fast sieben Tage die Woche von 7 bis 21 Uhr gearbeitet, damit wir wenigstens die Miete bezahlen konnten. Manchmal ging es einfach nur ums Überleben, weil wir nichts zu essen hatten. Es gab keine Hilfe, und wir mussten alles alleine schaffen. Als ich das Kind bekam, wurde es noch schwieriger, weil wir nun auch noch an den kleinen Menschen denken mussten. Wir haben uns gestritten und wollten uns sogar trennen. Ich wollte sogar zu meinen Eltern nach Horlivka zurückkehren. Aber dank meines Mannes haben wir alles überstanden. Allmählich begannen wir, wieder auf die Beine zu kommen. Mein Sohn ging in den Kindergarten, und ich konnte arbeiten gehen. Ich arbeitete als Köchin in der Schulkantine. Ich verdiente nicht viel, aber wie man so sagt: „Eine Köchin wird nie hungern“. Wir begannen, ein wenig zu sparen.

Und dann dieser unglückliche leidige Morgen des 24. Februar. Wie immer stand ich um 3:30 Uhr auf und machte mich für die Arbeit fertig. Ich kam um 5 Uhr in der Kantine an und während ich mich mit den Mädchen umzog, scherzte und mich auf einen neuen Arbeitstag vorbereitete, ertönte die erste Explosion; sie war sehr kräftig. Wir haben ihr zunächst keine große Bedeutung beigemessen, weil die Schule nicht weit von einem Übungsplatz entfernt ist. Und etwa 30 Minuten später gab es eine zweite, noch größere und lautere Explosion. Dann gerieten die Mädchen in Panik. Mein Mann rief mich an, weil er zu dieser Zeit mit unserem Kind zu Hause schlief und von dem Lärm geweckt wurde. Und kurz vor sechs Uhr riefen dann unsere Chefs von der Babynahrungsfabrik Kramatorsk an und sagten uns, dass wir vorläufig aufhören müssten zu arbeiten, da die Schulen heute nicht geöffnet werden. Sie ließen uns nach Hause gehen. Das war der Beginn der kompletten Invasion.

Wir sind nie wieder zur Arbeit gegangen. Auch die Kindergärten wurden geschlossen. Die Leute fingen an, alles zu kaufen, einfach alles, was es in den Geschäften gab. Kleine Geschäfte, Banken, Apotheken wurden geschlossen, Ärzte kamen nicht mehr zur Arbeit. Die Geldautomaten waren leer. Es passierte etwas sehr Schreckliches. Panik ist der schlimmste und der größte Feind. In einer solchen Situation muss man einen kühlen Kopf bewahren. Weil ich und mein Mann, so wie andere Leute, solche Situationen schon einmal erlebt hatten, wussten wir schon, was zu tun ist. Wir hatten einen Notfallkoffer gepackt mit Lebensmitteln, Streichhölzern, Kerzen und warmer Kleidung, denn es war noch Winter. Wir hatten schnell angefangen, uns vorzubereiten, denn wir wir wollten nicht die Stadt verlassen. Jeden Tag wurde es in der Stadt lauter und lauter. Zuerst gab es Einschläge und erst nach etwa zehn Minuten ertönten die Sirenen, weil die Stadt sehr nahe an der Frontlinie liegt und die Raketen deshalb schneller eintrafen, als die Sirenen warnen konnten. Immer öfter dachte ich: „Nein, ich gehe nirgendwohin, denn ich kann nicht noch einmal ganz von vorne anfangen, schon gar nicht mit einem Kind. Ich schaffe es nicht.“ Es ist sehr schwer für mich, alles zu lassen und wegzufahren.

Am 22. März feierten wir den fünften Geburtstag meines Sohnes und am nächsten Tag erfuhr ich, dass ich zum zweiten Mal schwanger war. Im Prinzip planten wir ein zweites Kind, aber nicht in so einer schweren Zeit. Diese neue Situation führte zu meiner Entscheidung, die Stadt zu verlassen. Es gab weder Apotheken und medizinische Versorgung. Es gab auch kein Ultraschallgerät und ich wusste einfach nicht, was mit dem Kind los war. Am 14. April zogen wir nach Chmelnitzkij um. Wir fuhren drei Tage lang mit unserem Auto. Unsere erste Übernachtung war in der Stadt Poltawa. Freiwillige halfen uns, uns in einem Kindergarten unterkommen. Sie versorgten uns mit Essen und gaben uns alles, was wir zum Duschen und Ausruhen brauchten. Anderthalb Tage blieben wir in Poltawa, weil es sehr schwer ist, den ganzen Tag mit einem Kind unterwegs zu sein, und mein Mann, der die ganze Zeit am Steuer saß, etwas Ruhe brauchte. Unser nächster Halt war in Tscherkassy. Wir mussten ein Zimmer in einem Hotel mieten (am 21. September dieses Jahres wurde das Hotel von einer Rakete getroffen), weil wir einfach keine Unterkunft bei Freiwilligen fanden. Und am 17. April 2022 kamen wir spät abends in Chmelnitzkij an. Hier ging ich zu einer Schwangerschaftsuntersuchung und erfuhr, dass ich bereits im dritten Monat war. Wir mieteten ein kleines Zimmer in einem Wohnheim. Mein Mann fing an zu arbeiten, aber ich konnte keine Arbeit mehr finden, weil die Kindergärten geschlossen waren und ich unser Kind betreuen musste. Es gab aber einen Drogeriemarkt in der Nähe unseres Hauses, und ich vereinbarte mit der Geschäftsleiter, dass ich zweimal pro Woche (wenn die Waren geliefert wurden) vorbeikommen und beim Einsortieren der Waren und Aufräumen helfen würde. Ich habe bis zum Schluss in Teilzeit gearbeitet. Es wurde zwar nicht viel bezahlt, aber immerhin etwas. Ich durfte auch alles, was ich brauchte, aus dem Laden mitnehmen (in einem vernünftigen Rahmen). So habe ich mich ein wenig mit Windeln, Babypflege und Waschmitteln eingedeckt. Zwei ältere Frauen, die im Wohnheim unsere Nachbarinnen waren, unterstützten uns mit Gemüse aus ihrem Garten sowie Konserven, wofür ich ihnen sehr dankbar bin.

Am 1. Dezember brachte ich meinen zweiten Sohn, Daniel, zur Welt, der jetzt 9 Monate alt ist. Da wir aus dem Studentenwohnheim ausziehen mussten, mieteten wir eine eigene Wohnung.

Ich möchte ein großes Dankeschön an unsere Freiwilligen richten, die uns helfen! Insbesondere Familien mit Kindern und ältere Menschen sind mehr denn je auf Ihre Hilfe und Unterstützung angewiesen. Ich wünsche und träume davon, dass der Krieg bald zu Ende ist und wir alle in unsere Häuser zurückkehren können. Und für diejenigen, die ihre Häuser verloren haben, werden wir sie auf jeden Fall wieder aufbauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit unserem Unglück nicht allein sind, und gemeinsam sind wir stark. Ich wünsche uns allen Frieden und einen großen Sieg.

Wir danken Iryna sehr herzlich für das Teilen ihrer bewegenden Geschichte. Auch wenn ihre Worte im letzten Jahr verfasst wurden, hat ihr Aufruf zu Solidarität nicht an Aktualität verloren. Wie ihr geht es auch heute vielen anderen Familien, denn sie sind auf unsere Unterstützung angewiesen.

Anfang August wollen wir wieder mit mehreren Transportern dringend benötigte Hilfsgüter nach Chmelnitzkij liefern. Zusätzlich sollen vor Ort eingekaufte Dinge des täglichen Bedarfs, wie Arznei und Hygieneartikel, den Binnengeflüchteten zur Verfügung gestellt werden.

Dafür benötigen wir noch dringend Spenden. Wenn Ihr uns unterstützen möchtet, findet Ihr die Übersicht der benötigten Dinge unter diesem Link: https://impreuna.org/bedarfsliste-ukraine/

Für Sachspenden könnt Ihr per E-Mail mit uns in Kontakt treten: ukraine@impreuna.org.

Geldspenden für Benzin und Einkäufe vor Ort könnt Ihr auf folgendes Konto überweisen:

IBAN: DE38850503003120001413
BIC: OSDDDE81XXX (Ostsächsische Sparkasse Dresden)
Konto-Inhaber: Impreuna e.V.
Verwendungszweck: Ukraine

Herzlichen Dank für Eure Unterstützung!

Euer Team von impreuna e.V.